giovedì 21 agosto 2008

Due interventi sui "Marxistische Blaetter"

Nationale Frage, Kampf um die Hegemonie und Mythos vom deutschen Sonderweg
Domenico Losurdo
(«Marxistiche Blätter», 2008, n. 1, pp. 49-63)

1. Dialektik der Revolution und nationale Frage

Es lohnt sich, einen recht bekannten Text von Lenin zum Ausgangspunkt zu nehmen, einen Text, in dem er gegen den „linken Radikalismus“ polemisiert und „das Grundgesetz der Revolution“ erklärt: „Zur Revolution genügt es nicht, dass sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewusst werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, dass die Ausbeuter nicht mehr leben und regieren können“. Im Allgemeinen wird diese Passage bis hierher zitiert und der Abschluss weggelassen: „Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise“ .
Wenn Lenin diese These formuliert, geht er ausdrücklich von der Bilanz der russischen Revolution aus. Die zentrale Bedeutung der nationalen Frage zeigt sich eindeutig infolge der konterrevolutionären Intervention der Entente. Die Bolschewiki bekämpfen und besiegen sie, indem sie einen Appell an das russische Volk richten, einen nationalen Befreiungskampf gegen die ausländische Invasion und gegen imperialistische Mächte zu führen, die Russland in eine Kolonie oder Halbkolonie des Westens verwandeln wollen. Auf dieser Grundlage wendet sich Aleksej A. Brusilow Sowjetrussland zu; der brillante General adeliger Herkunft, der Einzige oder einer der Wenigen, die im Ersten Weltkrieg Gutes geleistet hatten, begründet seine Wahl so: „Mein Pflichtgefühl der Nation gegenüber hat mich oft dazu gezwungen, nicht meinen natürlichen gesellschaftlichen Neigungen zu folgen“ .
Aber die Bedeutung der nationalen Frage lässt sich auch unabhängig von der Intervention der Entente verspüren. Der Krieg, der Zerfall des Heers, die völlige Diskreditierung und der Zusammenbruch des Alten Regimes führen zu einer beispiellosen Katastrophe: jegliche Autorität und jegliche Legitimationsgrundlage einer Autorität sind dahin; es ist der Krieg aller gegen alle; die Krise der russischen Nation ist so radikal, dass sie sogar ihre Identität zu verlieren scheint. Die Bolschewiki erringen den Sieg auch deshalb, weil sie sich als die einzige Partei erweisen, die in der Lage ist, den Staats- und Verwaltungsapparat wieder aufzubauen und die Nation zu retten: das geben manchmal sogar ihre Gegner zu. So meint zum Beispiel 1918 eine liberal eingestellte Persönlichkeit (W. Maklakow): „Die neue Regierung hat damit begonnen, den Staat zu restaurieren, Ordnung wiederherzustellen, gegen das Chaos anzukämpfen. Auf diesem Gebiet zeigen die Bolschewiki Energie, mehr noch, ein unleugbares Talent“ .
Dies entgeht im Übrigen auch Gramsci nicht, der im Juni 1919 die Bolschewiki als „eine Aristokratie von Staatsmännern“ und Lenin als den „größten Staatsmann des heutigen Europas“ rühmt: ihnen sei es gelungen, dem „düsteren Abgrund der Armut, der Barbarei, der Anarchie, der Auflösung“, den „ein langer und verheerender Krieg“ aufgerissen hatte, ein Ende zu setzen. Diese Haltung ruft die polemische Reaktion der Anarchisten hervor, die sich über „diese Apologie voller Lyrismus“ des Staates und der „Staatsvergötterung“, des „staatlichen, autoritären, gesetzlichen, parlamentaristischen Sozialismus“ empören. Für Gramsci gibt es jedoch keinen Zweifel: „Eine Revolution und nicht leere Aufgeblasenheit der rhetorischen Demagogik haben wir dann vor uns, wenn sie sich in einem Staatstyp verkörpert, wenn sie ein organisiertes Machtsystem wird“ . Und gerade das haben die Bolschewiki verstanden: die von ihnen in einer Situation schwerster Krise errichtete Diktatur hat zugleich die Revolution und die Nation gerettet.
Das letztliche Zusammenfallen von nationaler Sache und revolutionärer Sache wird unmittelbar evident, wenn die Revolution nicht in einem imperialistischen Land, wie es das zaristische Russland war, sondern in einem Land kolonialen oder halbkolonialen Zuschnitts ausbricht. Man denke besonders an China. Jahrtausendelang eines der entwickeltsten und bewundertsten Länder, durchlebte es infolge der kolonialen und imperialistischen Aggression eine tragische Periode nicht nur der territorialen Zerstückelung und der Unterdrückung, sondern auch infamer Demütigung, wie es das Schild deutlich macht, das Ende des 19. Jahrhunderts am Eingang der französischen Konzession in Shanghai protzte: „Hunden und Chinesen ist der Eintritt verboten“. Diese Zeit endet 1949, als die Kommunisten an die Macht kommen, was ihnen erst gelingt, nachdem sie sich als die Vorkämpfer der nationalen Befreiung hervorgetan und damit die Hegemonie erobert haben.
Es gibt wirklich eine enge Verbindung zwischen diesen beiden Aspekten des revolutionären Kampfes. Es ist kein Zufall, dass Lenin und Gramsci, die beiden großen Theoretiker der Hegemonie, zugleich die beiden großen Theoretiker der nationalen Frage sind. Der Kampf um die Hegemonie ist keine zusätzliche Propagandabemühung oder der Rekurs auf eine raffiniertere und überzeugendere Propaganda. Die nationale Frage ist das Terrain, auf dem sich der Kampf um die Hegemonie abspielt und entscheidet: eine revolutionäre Partei kann nur siegen, wenn sie in der Lage ist, die „gesamtnationale Krise“ zu lösen, die sich infolge einer Verknüpfung explosiver Widersprüche herausgebildet hat, wenn sie in der Lage ist, die materiellen und ideellen Bedürfnisse der Nation zu befriedigen. Der Nation gegenüber eine nihilistische Haltung einzunehmen, bedeutet faktisch den Verzicht auf den Kampf um die Hegemonie und für den Sieg der Revolution.

2. Rücksichtnahme auf die vielfältigen nationalen Individualitäten und chauvinistische Arroganz

Läuft aber dieses Insistieren auf der nationalen Frage nicht Gefahr, dem Chauvinismus den Weg zu bereiten? Anders gesagt: gibt es einen Unterschied zwischen der Verteidigung der nationalen Würde und Unabhängigkeit und einem exaltierten und aggressiven Nationalismus? Trotz der oberflächlichen Ähnlichkeiten oder Assonanzen haben wir es mit zwei ganz verschiedenen Einstellungen zu tun: die eine ist universalierbar, die andere nicht. Die Anerkennung und die Verteidigung der Würde einer Nation sind völlig kompatibel mit der Anerkennung und der Verteidigung der Würde der anderen Nationen. Offensichtlich ist dagegen die Kategorie „Herrenvolk“ (oder „Herrenrasse“) nicht universalisierbar: ein Herrenvolk kann es nur dann geben, wenn es auch niedrige, zur Knechtschaft bestimmte Völker gibt. Ähnliches gilt für die Kategorie „auserwähltes Volk“, die Bush jr. besonders schätzt, der das Dogma proklamiert hat: „Unsere Nation ist von Gott auserwählt und hat den geschichtlichen Auftrag, ein Modell für die Welt zu sein“. Es handelt sich nicht um eine isolierte Stimme. Hören wir Clinton: Amerika „muss weiterhin die Welt führen“; „unsere Mission ist zeitlos“. Und Bush sr.: „Ich sehe in Amerika die führende Nation, die einzige mit einer besonderen Rolle in dieser Welt“. Schließlich Kissinger: „Die Führungsaufgabe in dieser Welt ist den USA und ihren Werten inhärent“. Auch die Kategorie „auserwähltes Volk“ ist nicht universalisierbar: nur ein Volk, eben das amerikanische, ist mit der einzigartigen Mission betraut, die Welt zu führen. Diese Idee kann zu explosiven Konflikten führen. Um das zu verstehen, genügt es, die soeben zitierten Erklärungen mit einer Hitler zugeschriebenen Aussage zu vergleichen: „Es kann nicht zwei erwählte Völker geben. Wir sind das Volk Gottes“ . Selbst wenn sie unter vielen anderen Gesichtspunkten sehr unterschiedlich sind, haben die beiden hier miteinander verglichenen Ideologien etwas gemeinsam: sie bringen eine Idee von Nation zum Ausdruck, die so emphatisch und exklusiv ist, dass jede Universalisierung unmöglich wird. Und das ist gerade der Wesenskern des Nationalismus, des Chauvinismus oder des „Hegemonismus“, um die Sprache der chinesischen Führung zu benutzen.
Die Ablehnung von Nationalismus, Chauvinismus oder Hegemonismus ist keineswegs synonym mit nationalem Nihilismus. Einem Hinweis Hegels folgend, können wir sagen, dass die Nationen wie Individuen sind. In einer demokratischen Weltordnung steht die Forderung oder die Verteidigung der Würde eines Individuums nicht im Widerspruch zur Achtung vor der Würde, die jedem Individuum zukommt. In einer aristokratischen Weltsicht dagegen erfordert die Behauptung der besonderen Ehre eines privilegierten Individuums die Demütigung oder die Erniedrigung der Masse der gemeinen oder profanen Individuen. Die Bekämpfung des Privilegs in einer bestimmten Gesellschaft bedeutet nicht, den Wert des Individuums zu verkennen, sondern vielmehr dessen Universalität zu behaupten. Ähnliches gilt für die Beziehungen zwischen nationalen und staatlichen Individualitäten. Um mit dem Gramsci des Ordine Nuovo zu sprechen, wird in der „Kommunistischen Internationale (…) jeder Staat, jede Institution, jedes Individuum seine Fülle des Lebens und der Freiheit finden“ .

3. Ein ewig reaktionäres Deutschland?

Nationaler Nihilismus ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Revolution und auf politisch-soziale Umwälzung. Gilt dies auch für Deutschland, oder lastet auf ihm der ewige Fluch eines reaktionären und verbrecherischen Sonderwegs? Die Jahre vergehen, doch als äußerst zählebig erweist sich jenes Mythenkonstrukt, demzufolge sich die Geschichte des deutschen Volkes als völlig von einer negativen Teleologie beherrscht darstellt, die angeblich unauhaltsam auf die Barbarei des Dritten Reichs und auf den Gräuel der „Endlösung“ hinauslaufe. Selbst höchst Gebildete erinnern sich anscheinend nicht an die vielen Jahrzehnte, in denen Deutschland gleichbedeutend für Revolution stand. Wenn Condorcet 1792 an die Deutschen appelliert, den bevorstehenden konterrevolutionären Kreuzzug gegen das neue Frankreich zu boykottieren, geht er, vor allem die Reformation ins Gedächtnis rufend, so weit zu erklären: „Wir verdanken euch unsere Freiheit“ . Auch wenn sie politischem Kalkül entspringt, klingt die Argumentation des französischen Philosophen klar und überzeugend. 1789 kommt der Zyklus von Kämpfen gegen das Ancien Régime zum Abschluss, der auf deutschem Boden mit Luther begonnen hatte; die Reformation war, wie die französische Revolution, in Deutschland eine große Massenbewegung, während der Bruch mit Rom in England bloß das Ergebnis einer Initiative von oben darstellt: es ist das Land, das nicht zufällig die Koalition gegen das revolutionäre Frankreich inspiriert und anführt. Der Leitgedanke des französisch-deutschen Bündnisses, das heißt des Bündnisses zwischen den beiden Völkern, die in impliziter oder expliziter Polemik gegen das als Bollwerk der Reaktion betrachtete England die Sache des Fortschritts und der Revolution repräsentieren, durchdringt zutiefst die große philosophische Epoche, die von Kant zu Fichte, von Hegel zu Marx reicht.
Während die progressiven Kräfte in England einen Gegner sehen, betrachten die Vorkämpfer der Reaktion in Deutschland es als Vorbild. 1847 weigert sich Friedrich Wilhelm IV., eine Verfassung und ein nationales Parlament zu gewähren: eine Vertretung nicht nach Ständen, sondern nach Parteien oder ideologischen und politischen Strömungen zu fordern, sei vollkommen „undeutsch“. Ebenso sei es den Erfordernissen und Traditionen Preußens fremd, das Glück in künstlichen Regeln, d. h. in „gemachten und gegebenen Konstitutionen“ zu suchen. Der romantische König setzt dem französischen Modell ganz eindeutig das englische entgegen und fordert dazu auf, „das Beispiel des einen glücklichen Landes, dessen Verfassung die Jahrhunderte und eine Erbweisheit ohnegleich, aber kein Stück Papier gemacht haben“ nie aus den Augen zu verlieren und ihm mit großer Achtung zu begegnen .
Jahrzehntelang ändert sich das hier gezeichnete Bild nicht, sondern scheint immer neue Bestätigung zu finden. England, das Land, in dem die aus dem revolutionären Frankreich verjagten Bourbonen Zuflucht gefunden hatten, bleibt zusammen mit dem zaristischen Russland vor der großen Welle der Umwälzungen bewahrt, die 1848 den Großteil des kontinentalen Europas, Deutschland inbegriffen, erfasst. Und gerade Deutschland gilt einer breiten öffentlichen Meinung immer mehr als ein Land, das, der Tendenz nach, zusammen mit Frankreich und vielleicht noch mehr als dieses, die Sache der Revolution verkörpert. Wenn Alexander Herzen um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Hegelsche Dialektik als die „Algebra der Revolution“ rühmt, warnt in Italien Cavour, immer mit Blick auf diese Denkrichtung, vor einem beunruhigenden Phänomen: „Wir sehen heute viele Kommunisten aus den deutschen Universitäten kommen“. Ein Alarmruf, der den Atlantik überquert und die Vereinigten Staaten erreicht, wo ein bedeutender Theoretiker der Sklaverei darauf aufmerksam macht, dass „Deutschland voller Kommunisten ist“. Das stimmt – betont Mehring am Ende des 19. Jahrhunderts auf der anderen Seite der Barrikade – „der Emanzipationskampf der modernen Arbeiterklasse ist der glorreichste und größte Befreiungskampf, den die Weltgeschichte kennt, und Jahrhunderte deutscher Schmach löscht die Tatsache aus, dass die deutsche Sozialdemokratie diesen Kampf in der Vorhut führt“.
Nach der fürchterlichen Unterdrückung der Pariser Kommune formuliert Marx die These, „der Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung [habe sich] von Frankreich nach Deutschland“ verlegt. Die von Frankreich bis zur Pariser Kommune gespielte avantgardistische revolutionäre Rolle, unterstreicht auch Engels, komme jetzt Deutschland zu, das sich inzwischen auf internationaler Ebene „zum Zentralgebiet der sozialistischen Bewegung“ entwickelt habe, und nicht nur aus zahlenmäßigen Gründen und wegen der organisatorischen Effizienz: die deutschen Arbeiter bewiesen einen beispielhaften „theoretischen Sinn“ und revolutionäre Strenge.
Diese These wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Lenin bekräftigt, auch weil es der sozialistischen Bewegung in Deutschland gelungen sei, siegreich eine „schwere Prüfung, das Sozialistengesetz“ zu überwinden . Wegen ihrer Geschlossenheit und ihrer Kampffähigkeit unter den Bedingungen der Legalität und Illegalität sei die im Zweiten Reich wirkende Sozialdemokratie als Modell anzuführen: „Nehmen wir die Deutschen (…). Doch die Deutschen hatten nur ein verächtliches Lächeln für diese demagogischen Versuche übrig (…). Man sehe die Deutschen an (…). Sie wissen sehr gut…“ Noch im Jahre 1909 stellt Trotzki Russland, das passiv den asiatischen Despotismus und die asiatische Rückständigkeit erträgt, Deutschland entgegen, das von revolutionären Beben durchlaufen wird, „wo der sozialistische Arbeiter sich als aktiver Teilnehmer an der Weltpolitik fühlt und aufmerksam die Ereignisse auf dem Balkan oder die Debatten im Reichstag verfolgt“, in denen die stärkste und am besten organisierte sozialistische Partei Europas und der Welt beständig ihre Stimme hören lässt.
Erneut haben wir es mit einem Bild zu tun, das, wenn auch mit einem anderen und entgegengesetzten Werturteil, bei den reaktionär orientierten Autoren Bestätigung findet. Der „aufgeklärte“ Nietzsche formuliert die These, wonach „der deutsche Sozialist eben deshalb am gefährlichsten sei, weil ihn keine bestimmte Noth treibe“, sondern nur eine Ideologie, und das heißt der von Engels gerühmte „theoretische Sinn“. Ecce homo geht noch weiter: „Die Deutschen sind canaille“, sie sind das egalitäre Volk schlechthin; „der Deutsche stellt gleich“ .
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ändert sich dieses Bild nicht. Das Jahr 1914 stellt aber sicherlich einen Einschnitt dar. Einerseits gerät die deutsche Sozialdemokratie durch ihren „Verrat“, ihre sozialchauvinistische Haltung, in revolutionären und pazifistischen Kreisen in Verruf. Andererseits präsentieren die Entente und, nach ihrem Kriegseintritt, vor allem Wilsons USA ihren Krieg als einen Kreuzzug, der die antidemokratische, militaristische und kriegshetzerische Vendée, die vor allem von Deutschland repräsentiert werde, ins Visier nimmt und bei dem es angeblich darum geht, die Demokratie in der Welt zu verbreiten. Max Weber tut sich nicht schwer, diesen Anspruch zu ironisieren – wird er doch von einem Land erhoben, in dem immer noch der Ku Klux Klan wütet und Schwarze gelyncht werden, von einem Land, das durch jenes Regime der white supremacy charakterisiert ist, das, wie wir noch sehen werden, zu einem wesentlichen Bezugspunkt der Naziideologen wird.
Die heute noch verbreiteten Stereotype halten also einer historischen Untersuchung nicht stand. Sollen wir Deutschland als das Land des immerwährenden Militarismus abstempeln? Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschreibt Madame de Staël die Deutschen als zu sehr der Poesie und der Philosophie zugetan und zu sehr zur „Unparteilichkeit“ neigend, als dass sie „die Angst vor Gefahr“ überwinden und den von den Soldaten geforderten „Mut“ beweisen könnten. In den Jahren der napoleonischen Beherrschung Europas sei in Frankreich, und nicht etwa auf deutschem Boden, „der Gefallen am Krieg allgemein verbreitet“ . Ist Deutschland, wenn schon nicht das Land des Militarismus, das des immerwährenden Antisemitismus? Wie sowohl der Erfolg eines Autors wie Edouard Drumont als auch der Fall Dreyfus beweisen, ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Judenhass jenseits des Rheins besonders virulent. Und noch zu Beginn des ersten Weltkriegs veröffentlicht Hermann Cohen, ein bedeutender deutscher Philosoph jüdischer Herkunft, ein Büchlein, dessen Leitfaden er folgendermaßen formuliert: „So sehen wir (…) Deutschtum und Judentum innerlichst verbunden“ .
Nicht einmal die Niederlage und der Versailler Vertrag führen hier zu einer radikalen Wende. In Bezug auf das Deutschland der zwanziger Jahre kann ein Zeugnis von Leo Löwenthal von Interesse sein: „Wir haben immer mit einem gewissen Humor davon Kenntnis genommen, dass es in Frankfurt ein winziges Hotel gab … das hatte ein Schild ‚Juden nicht willkommen’ oder ‚Juden unerwünscht’ . Dann gab es auch einen kleinen Badeort, Borkum bei Norderney, der für Antisemiten ‚reserviert’ war. Aber das Alles haben wir nicht ernst genommen … von einer Art Antisemitismus, die es einem unmöglich macht, in bestimmte Restaurants, Hotels oder Clubs zu gehen, habe ich erst hier in Amerika erfahren“ .
Noch 1933 verspürt Spengler das Bedürfnis, mit folgenden Worten seine Einstellung den Juden gegenüber zu formulieren: „Aber wenn hier von Rasse die Rede ist, so ist das nicht in dem Sinne gemeint, wie er heute unter Antisemiten in Europa und Amerika Mode ist, darwinistisch, materialistisch nämlich“ . Das heißt, nicht nur derr Autor jüdischer Herkunft, der der Frankfurter Schule nahestand, sondern auch ein reaktionärer und judeophober Aktivist wie Spengler hielt den in den Vereinigten Staaten wütenden Antisemitismus für übertrieben oder vulgär biologistisch.

4. Deutscher Rassismus und Rassisierung der Deutschen

Das Motiv des ewig kriegshetzerischen und damit ewig reaktionären Deutschland entspringt der Kriegsideologie der Entente. Es ist ein historisch völlig unbegründeter und in politischer Hinsicht recht unredlicher Mythos. Von 1914 an werden die Deutschen als Hunnen und Vandalen, als Barbaren schlechthin abgestempelt. Die Deutschen, die einen sehr verhängnisvollen Beitrag zur Geschichte des Rassismus geleistet haben, werden ihrerseits seit dem Ersten Weltkrieg selbst Opfer einer Rassisierung. Darauf macht in Italien Benedetto Croce aufmerksam. Die Interpretation des Krieges als Zusammenstoß zwischen „Deutschtum“ und „Latinität“, schreibt Croce, verliere nichts von ihrem hassenswerten Charakter, wenn sie von italienischer (oder französischer oder englischer) Seite nur mit Umkehrung des Werturteils wieder aufgenommen werde: die These, die das deutsche Volk in Bausch und Bogen als „ruchloses Volk“ verurteile, sei nicht „weniger dumm“ als die, die es als „erwähltes Volk“ würdige.
Doch mit der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch Hitler bekommt die These vom zuinnerst barbarischen und kriegshetzerischen Charakter des deutschen Volkes nicht nur neuen Aufschwung, sondern nimmt noch beunruhigendere Töne an. In einer Rede vom April 1941 erklärt Churchill: „Es gibt weniger als 70 Millionen bösartiger Hunnen – einige (some) davon sind zu heilen, die anderen (others) umzubringen“. Noch vielsagender ist vielleicht die Stellungnahme eines anderen bedeutenden Staatsmannes. Nachdem er in Yalta erklärt hatte, er fühle sich „blutdürstiger denn je gegen die Deutschen“ wegen der von ihnen begangenen Gräueltaten, nimmt Franklin Delano Roosevelt schließlich, ohne es zu wissen, den von einem frommen und bekannten amerikanischen Pastor schon im Ersten Weltkrieg gemachten Vorschlag wieder auf: „Wir müssen hart mit Deutschland umgehen, und ich meine das deutsche Volk, nicht nur die Nazis. Entweder müssen wir das deutsche Volk kastrieren, oder man muss die Deutschen in einer Weise behandeln, dass sie nicht immerzu Leute in die Welt setzen, die so weitermachen wollen wie früher“.
Die Idee der „Kastration“ bringt klar den vollendeten Prozess der Rassisierung des Feindes zum Ausdruck. Und erneut können wir die kritische Stellungnahme Croces anführen. Wenn er die „historische Natur“ des „Bösen“ des Hitlerregimes und seiner Ideologie hervorhebt, unterstreicht er, dass die geforderten „Sterilisationen“ in Wahrheit das „von den Nazis gegebene Beispiel“ nachahmen. Tatsächlich gingen der „Endlösung“ im Dritten Reich wiederholte Programme oder Anregungen zur „Massensterilisation der Juden“ voraus .

5. Die internationalen Ursprünge des Faschismus und des Nazismus

Trotz der Mythen und der Rassisierungsprozesse, die sich von den beiden Weltkriegen an entwickelt haben, ist Deutschland nicht das Land, das seit jeher oder zumindest seit Jahrhunderten den Horror des Dritten Reichs und der „Endlösung“ ausbrütete. Vielmehr können wir all das nicht verstehen, wenn wir nur auf das achten, was auf deutschem Boden geschieht. Wir sprachen schon vom virulenten Antisemitismus, der sich Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich und in den Vereinigten Staaten entwickelt. Vor allem auf die USA sollten wir unsere Aufmerksamkeit richten. Schon vor den Naziideologen und -agitatoren ist das Thema der geheimen jüdischen Steuerung der revolutionären Bewegung, die den Westen erschüttert, den US-Ideologen der white supremacy geläufig. Madison Grant unterstreicht die „semitische Führung“ des „Bolschewismus“, und Lothrop Stoddard brandmarkt das „bolschewistische Regime Sowjetrusslands“ als „weitgehend jüdisch“.Besonderes Interesse verdient die Figur Henry Ford. Sofort nach dem Oktober 1917 bemüht sich der Magnat der Autoindustrie darum, die bolschewistische Revolution als das Resultat eines jüdischen Komplotts zu denunzieren und gründet 1919 zu diesem Zweck eine in hoher Auflage gedruckte Zeitschrift, den Dearborn Independent. Die dort abgedruckten Artikel werden im November 1920 in Buchform mit dem Titel Der internationale Jude veröffentlicht, das sofort zum Bezugspunkt für den internationalen Antisemitismus wird, so dass es „zweifellos als das Buch“ betrachtet werden könne, „das am meisten zur Berühmtheit der Protokolle in der Welt beigetragen hat“. Später werden Nazibonzen ersten Ranges wie von Schirach und sogar Himmler erklären, von Ford inspiriert worden oder von ihm ausgegangen zu sein. Himmler behauptet, erst nach der Lektüre des Buches von Henry Ford „die ganze Gefährlichkeit des Judentums“ erkannt zu haben: „Es war für uns Nationalsozialisten die Offenbarung“. Darauf folgte die Lektüre der Protokolle der Weisen von Zion: „Diese beiden Bücher wiesen uns den Weg, den wir zu beschreiten hatten, um die gequälte Menschheit von dem größten Feinde aller Zeiten, dem internationalen Juden, zu befreien“. Im Übrigen hätte – nach Himmler – das Buch von Ford zusammen mit den Protokollen sowohl für seine als auch für die Formierung des Führers eine „ausschlaggebende“ Rolle gespielt. Sicher ist, dass Der internationale Jude im Dritten Reich weiterhin mit großen Ehren und mit Vorworten veröffentlicht wird, die das entscheidende historische Verdienst des amerikanischen Autors und Industriellen hinsichtlich der Klärung der „Judenfrage“ hervorheben, und eine Art Kontinuität von Henry Ford zu Adolf Hitler herausstreichen!
Das amerikanische Vorbild hinterlässt auch auf begrifflicher und linguistischer Ebene tiefe Spuren. Man denke nur an das Schlüsselwort („Untermensch“), das in konzentrierter Form die in der Naziideologie enthaltene Entmenschlichung und völkermörderische Gewalt zum Ausdruck bringt: Untermenschen wird von vornherein die volle Menschenwürde abgesprochen, da sie dazu bestimmt sind, als bloße Arbeitswerkzeuge zu dienen oder als Krankheitserreger, die zum Aufruhr gegen die Herrenrasse und gegen die Kultur als solche anstacheln, vernichtet zu werden. Die Suche nach den Ursprüngen dieses Schlüsselworts, das eine so zentrale und schändliche Rolle in der Theorie und Praxis des Dritten Reichs spielt, beschert uns eine Überraschung: „Untermensch“ ist nichts anderes als die Übersetzung des amerikanischen „Under Man“! Das weiß und betont 1930 auch Alfred Rosenberg, der seine Bewunderung für den US-amerikanischen Autor Lothrop Stoddard zum Ausdruck bringt: diesem kommt das Verdienst zu, den fraglichen Begriff als erster geprägt zu haben, der sich im Untertitel (The Menace of the Under Man) eines 1922 in New York und drei Jahre später in München in deutscher Übersetzung (Die Drohung des Untermenschen) erschienenen Buches findet. Der Anerkennung, die ihm ein Spitzentheoretiker der Nazibewegung zollt, schließt sich 1933 ein unbedeutenderer Ideologe an, der bei der Untersuchung der „Grundlagen“ der ‚Rassenforschung’ vor den Gefahren warnt, die in der üblichen Gegenüberstellung von Tierwelt und „Menschheit“ lägen: unter diesem letzteren Begriff könnten nämlich undifferenziert zwei sehr unterschiedliche Realitäten gefasst werden, der „nordische Mensch“ und der „Untermensch“, von dem als erster, mit einem „treffenden“ Ausdruck, Stoddard gesprochen habe.
Was die Bedeutung des Begriffs angeht, so betont der US-Autor, habe er ihn geprägt, um damit „all jene[n] traurige[n] Abfall, den jede lebendige Art ausscheidet“ zu kennzeichnen, die Masse der „minderwertigen“ Elemente, „der Nichtanpassungsfähigen und der Unfähigen“, der „echten Wilden oder Halbwilden“, die oft voller Ressentiment gegen die „höherwertigen“ Persönlichkeiten steckten, die sich als „unbelehrbar“ erwiesen und bereit seien, „der Kultur den Krieg“ zu erklären. Es sei diese schreckliche Gefahr gesellschaftlichen und ethnischen Charakters, die unbedingt abgewehrt werden müsse, „wenn unsere Kultur und Art vor dem Verfall gerettet werden soll“.
Der Kampf auf Leben und Tod gegen den „Under Man“ ist für Stoddard Teil eines eugenischen und Rassenprogramms von größerer Tragweite: es gehe darum, „to cleance the race of its worst impurities“; notwendig sei eine Politik des „race cleansing“, der „race purification“; erforderlich sei es, die Entdeckungen von Francis Galton, „the science of ‚Eugenics’ or ‚Race Betterment’“, systematisch anzuwenden. In der deutschen Übersetzung werden die beiden letztgenannten Begriffe zumeist – schon im Sachregister – zu „Erbgesundheitslehre und -pflege“.
Damit sind wir bei einem anderen Schlüsselwort der Naziideologie, das meistens synonym mit ‚Rassenhygiene’ benutzt wird. Es lohnt sich, auch einen Blick in die Geschichte dieses Begriffs zu werfen, der Ende des 19. Jahrhunderts erstmals auftaucht. Alfred Ploetz benutzt ihn und beruft sich dabei auf die Untersuchungen des „berühmte[n] Vererbungsforscher[s] Francis Galton“; er beherzigt dabei die Eindrücke seines Aufenthalts in den USA, wo die neue Wissenschaft ihre größten Triumphe feiert, auch weil sich, wie Ploetz beobachtet, die „Arier“ dort in einem Kampf gegen „Indianer, Neger und Mischlinge“ befänden und die „weiterblickenden Yankees“ besorgt sind, dass die neuen Immigranten dank ihrer größeren Fruchtbarkeit die Oberhand über die alteingesessenen Weißen gewinnen könnten.
Ähnliche Betrachtungen könnte man für andere zentrale Kategorien des nazistischen ideologischen Diskurses anstellen Es mag genügen, hier darauf hinzuweisen, dass sogar der Begriff „Endlösung“ zum ersten Mal in den USA an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Büchern erscheint, die, wenn auch vager und ohne die völkermörderische Konsequenz Hitlers, eine „endgültige und vollständige Lösung“ (final and complete solution) oder die „ultimative Lösung“ (ultimate solution) des Problems der „inferioren Völker“ und insbesondere der Schwarzen vorschlagen .
Mit Blick auf die Virulenz des Antisemitismus im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat ein maßgeblicher israelischer Forscher (Zeev Sternhell) von „französischen Ursprüngen des Faschismus“ gesprochen . Aber auch diese Sichtweise – wenngleich sie das Verdienst hat, den Mythos von einem Deutschland infrage zu stellen, das angeblich immer und ewig die schlimmste Reaktion verkörpert – ist einseitig. Es ist besser, von internationalen Ursprüngen des Faschismus und des Nazismus zu reden, ohne die Bewunderung Hitlers für Mussolini, die von den russischen ‚Weißen‘ (in Flucht vor der Oktoberrevolution und vor dem „jüdischen Komplott“) repräsentierte Richtung und vor allem das Vorbild des hauptsächlich im Süden der USA vorherrschenden Rassenstaats aus den Augen zu verlieren.

6. Deutscher Sonderweg und amerikanischer exceptionalism

Besonders lehrreich ist der Vergleich zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten auch deshalb, weil dem Mythos vom deutschen Sonderweg der Mythos des nordamerikanischen exceptionalism entspricht. Die letztgenannte Kategorie wird bis heute von einem entschieden positiven Werturteil begleitet; sie wird schließlich benutzt, um das von Gott auserwählte und damit per definitionem mit einer höheren moralischen Sensibilität ausgestattete Volk zu feiern. Aber auch der Terminus „Sonderweg“ war, bevor er synonym mit dem besonderen Fluch wurde, der angeblich auf Deutschland lastet, positiv gemeint, denn er diente dazu, ein Land und ein Volk zu bezeichnen, denen glücklicherweise die verhängnisvollen revolutionären Umwälzungen erspart blieben, die vor allem Frankreich gekennzeichnet hattenKommt es zu eine Umkehrung der Werturteils auch, was den exceptionalism betrifft? Interessant ist, wie ein prominenter US-amerikanischer Historiker die Geschichte seines Landes charakterisiert: „Nur in den Vereinigten Staaten gab es eine stabile und direkte Verbindung zwischen Eigentum an Sklaven und politischer Macht. Nur in den USA spielen die Sklavenhalter eine zentrale Rolle bei der Staatsgründung und der Schaffung von Repräsentativorganen“ . Auf dieser Linie kann man noch weiter gehen und die Aufmerksamkeit auf eine ganze Reihe von unerfreulichen Eigentümlichkeiten der nordamerikanischen Republik lenken. In den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz waren ihre Präsidenten fast immer Sklavenhalter (Washington, Jefferson, Madison, Monroe, Jackson usw.). Die Vereinigten Staaten waren eines der letzten Länder auf dem amerikanischen Kontinent, das die Sklaverei abschaffte, und zuvor hatten sie sich mit einer Politik hervorgetan, die darauf abzielte, Haiti zum Hunger zu verurteilen und zur Kapitulation zu zwingen, das Land, das in der westlichen Hemisphäre als erstes die Sklaverei beseitigte und wo die ehemaligen Sklaven die Macht übernommen hatten; außerdem führen sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Texas, das sie mit dem Krieg gegen Mexiko diesem entrissen hatten, die Sklaverei wieder ein. Auf die formelle Abschaffung der Sklaverei folgt im Süden der USA ein terroristisches Regime der white supremacy, das nicht nur die Rassentrennung sanktioniert, sondern die Lynchjustiz und die langsame Tortur rebellischer Schwarzer sogar zum Massenspektakel macht. Dieses Regime der white supremacy, dem in Lateinamerika eigentlich nichts entspricht, überlebt des Zusammenbruch des Dritten Reichs; so gibt es noch mitten im 20. Jahrhundert nicht wenige Bundesstaaten, vor allem im Süden, die die Rassentrennung in den Schulen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und in jedem Aspekt des sozialen Lebens sanktionieren und sexuelle Beziehungen und Ehen zwischen den Rassen verbieten und wie ein Verbrechen behandeln. Und das ist noch nicht alles. Der Rassismus gegen die Schwarzen hat gelegentlich noch schlimmere Formen angenommen, für die sich Clinton gezwungen fühlte, bei der afroamerikanischen Gemeinschaft um Entschuldigung zu bitten: „In den sechziger Jahren sind in Alabama 400 Farbige von der Regierung als menschliche Versuchskaninchen benutzt worden. An Syphilis Erkrankte wurden nicht behandelt, weil die Behörden die Wirkungen der Krankheit an einer ,Stichprobe der Bevölkerung‘ untersuchen wollten“ .
Soweit zur Vergangenheit. Wie wird in Zukunft über den exceptionalism gesprochen werden, wenn das Land, das beansprucht, ihn zu verkörpern, weiterhin immer neue Kriege entfesselt und immer arroganter seine göttliche Mission als angeblich auserwähltes Landes betont? Die Bahn des deutschen Sonderwegs verfolgend, könnte der US-amerikanische exceptionalism ebenfalls synonym mit reaktionärer Hartnäckigkeit und sogar mit der unverbesserlichen Tendenz werden, sich als „Herrenvolk“ aufzuspielen. Dies kann man keineswegs ausschließen. Aber es wäre erneut ein Kurzschluss. Dem US-amerikanischen Historiker, der die entscheidende Rolle der Sklavenhalter bei der Gestaltung des politischen und verfassungsmäßigen Systems seines Landes hervorhebt, ließe sich entgegenhalten, dass Ähnliches im liberalen England zu beobachten ist: dessen Vordenker ist John Locke, Aktionär der Royal African Company; und diese Gesellschaft betreibt den einträglichen Sklavenhandel, den das aus der Glorious Revolution hervorgegangene Land eilends für sich zu monopolisieren bemüht ist. Die Rolle, die die Sklaverei für die Gesamtwirtschaft des Landes spielt, geht aus einer Auflistung des Liverpool Courier vom 22. August 1832 hervor: 3/4 des britischen Kaffees, 15/16 seiner Baumwolle, 22/23 seines Zuckers und 34/35 seines Tabaks wurden von Sklaven erzeugt. Schließlich das politische Gewicht der Sklaverei: 1790 sitzen im englischen Parlament zwei oder drei Dutzend Mitglieder mit Interessen in Westindien. Hinzuzufügen wäre, dass die Behandlung der irischen Bevölkerung durch die englischen Eroberer den nordamerikanischen Siedlern als Modell in ihrem Umgang mit den Indianern dient. Doch was wir hier skizziert haben, ist keine ausschließlich angelsächsische Angelegenheit: auch im liberalen Holland des 17. Jahrhunderts übt eine fest im Sklavenhandel engagierte liberale Elite die Macht aus .
Gewiss, mit der Versklavung der Schwarzen, dann mit dem Regime der white supremacy sind die Vereinigten Staaten über lange Zeit ein Rassenstaat. Betrachten wir jedoch die Länder der europäischen Metropole und die Kolonien in ihrem Besitz als Einheit, finden wir regelmäßig eine doppelte Gesetzgebung vor, eine für die Eroberer und eine für die Eroberten. Der Rassenstaat ist auch hier am Werk, nicht anders als in den USA, auch wenn er in deren Fall wegen der räumlichen Nähe, in der die verschiedenen Rassen leben, offensichtlicher wird. Folglich: Wenn man vom Fluch des deutschen Sonderwegs redet, so verdrängt man das Schicksal, das Länder wie England und die USA den Schwarzen, den Iren, den Indianern beschert haben; aber eine ähnliche Verdrängung (die jetzt die überseeischen Kolonialvölker betrifft) nähme vor, wer den Fluch des nordamerikanischen exceptionalism beschwören wollte. Im einen wie im anderen Fall wird ein besonderer Aspekt der Realität isoliert und verabsolutiert und die Totalität aus den Augen verloren: ein äußerst antidialektisches Vorgehen.
Eins sollte man jedenfalls festhalten: Ist heutzutage die Tendenz recht verbreitet, die Geschichte Deutschlands insgesamt als eine Art Vorbereitung der „Endlösung“ zu deuten, so muss man nur einige Jahrzehnte hinter das Dritte Reich zurückgehen, um als Genozid in Vollendung und vollendeter Grausamkeit den von den Indianern erlittenen, und als Volk der Vernichter schlechthin die Angloamerikaner auszumachen. Lesen wir Arthur de Gobineau: Im Gegensatz zu den Germanen, die bereit gewesen seien, „das Land mit den ehemaligen Besitzern zu teilen“, sei für den angelsächsische Stamm, der sich in Amerika niederließ, die erbarmungslose Unnachgiebigkeit gegenüber den Eingeborenen charakteristisch: er wollte „nicht nur ihre Anwesenheit nicht mehr dulden“, nein, ihnen auch „das Leben nicht mehr (gönnen)“. Die Germanen, so fährt der französische Autor fort, „waren zu naturwüchsig, um den Gedanken zu fassen, ihren Untertanen oder fremden Völkern den Gebrauch von Likören oder Giftstoffen aufzunötigen. Dies ist eine Erfindung der Neuzeit. Weder den Vandalen, noch den Goten, noch den Franken, noch den ersten Sachsen war es in den Sinn gekommen, dergleichen zu tun, und die Zivilisationen der alten Welt, wiewohl raffinierter und auch verderbter, hatten ebensowenig daran gedacht. Nicht der Brahmane, nicht der Magier haben das Bedürfnis empfunden, alles, was sich ihrer Denkart nicht anschloß, ringsum aufs Allergründlichste verschwinden zu lassen. Unsere Zivilisation ist die einzige, welche diesen Instinkt und zugleich diese Gewalt des Mordens besessen hat; sie ist die einzige, die ohne Zorn, ohne Aufregung, im Gegenteil in dem Wahne, über alle Maßen mild und mitleidig zu sein und unter Verkündung der unbegrenztesten Sanftmut, unaufhörlich daran arbeitet, sich mit dem Horizonte von Gräbern zu umgeben“.
Gewiss, Gobineau hält moralische Vorwürfe für überflüssig und unangebracht: „Die Anglo-Amerikaner haben, als überzeugte und treue Vertreter dieser Art von Kultur, deren Gesetzen entsprechend gehandelt. Man kann sie nicht tadeln“. Aber eigentlich hört es sich an, als würde man hier die Bilanz der Moderne nach Auschwitz und dem verwalteten Genozid lesen. Die Angloamerikaner sind verantwortlich für einen in gewisser Hinsicht einmaligen Holocaust: die Radikalität, mit der die Indianer ausgerottet wurden, „ist ganz neu auf Erden“ .
Im Vormarsch der nordamerikanischen Siedler erblickt Theodor Waitz, ein deutscher Rassentheoretiker – was für eine weitere Ironie der Geschichte – etwa zur gleichen Zeit das vollendetste Beispiel des Genozids: „Nach der Lehre der amerikanischen Schule, nach Agassiz und Mortons Nachfolgern, sind die höheren Rassen dazu bestimmt, die niederen zu verdrängen, wie dies von jeher auf der Erde von Seiten der höheren Gebilde den niederen geschehen ist. Dieses zu Grunde gehen der niederen Rassen ist göttliche Bestimmung, und es scheint demnach, dass wir nicht bloß die Berechtigung des weißen Amerikaners zur Vertilgung der roten Menschen anerkennen, sondern sogar noch die Frömmigkeit zu loben haben, mit der er sich als erleuchtetes einsichtiges Werkzeug der Vorsehung diesem Vertilgungsgeschäfte von jeher hingegeben hat. Was den frommen Apostel des Menschenmordes in seiner Trauer über das beklagenswerte Schicksal der roten Rasse tröstet, ist der Umstand, dass es den Naturgesetzen gemäß erfolgt, die das Aufsteigen und Niedersinken der Völker beherrschen, den Naturtrieben oder Instinkten entsprechend, die vom Schöpfer den einzelnen Rassen selbst eingepflanzt“ worden sind .
Kehren wir zu F. D. Roosevelt zurück, der einen Augenblick lang von der Idee der „Kastration“ der Deutschen fasziniert war. Vielleicht wären dem US-amerikanischen Staatsmann mehr Bedenken gekommen, hätte er zufällig Madame de Staël und ihre Beobachtungen über die geringe militärische Eignung eines Volkes gelesen, das sich voll und ganz dem Kult der Dichter und Denker widmete. Und wenn er schließlich auf Gobineau und Waitz und ihre Hinweise auf den Vernichtungsrassismus der „amerikanischen Schule“ gestoßen wäre, so hätte Roosevelt verstanden, dass die Idee, durch „Kastration“ der Verantwortlichen die Wiederholung solcher Praktiken zu vermeiden, auch das Volk hätte treffen können, zu dem er selber gehörte! Eine grundlegende Wahrheit darf man nicht aus den Augen verlieren: weit davon entfernt, die Wiederholung des Immergleichen zu sein, zeichnet sich die Geschichte durch unaufhörliche Veränderung und durch auch recht radikale Wendungen aus. Man sollte ein für alle Mal Schluss machen mit dem Mythos, es gebe starre, von der Zeit unabhängige Identitäten.

7. Selbstgeißelung oder Neudefinition der nationalen Identität?

Die These von einem furchtbaren Sonderweg Deutschlands ist nicht nur historisch unhaltbar; schon der Mythos als solcher von einem reaktionären Sonderweg, der auf einem bestimmten Land laste, ist keine deutsche Besonderheit. In Italien schreibt Piero Gobetti kurz nach dem „Marsch auf Rom“, der Sieg des Faschismus sei die „Autobiographie der Nation“; „Mussolini ist also nichts Neues“ . Eine ununterbrochene Kontinuitätslinie unter dem Vorzeichen der schwarzen Reaktion charakterisiert in seinen Augen die Geschichte Italiens, zumindest vom Ausbleiben der Reformation an. Die „Freiheit“ der „protestantischen Moral“ habe sich in Italien nicht durchgesetzt: „Die Höfe, einziges Zentrum des intellektuellen Lebens, folgten friedlich dem dogmatischen Vorbild Roms“. Es ist der Anfang der Katastrophe: was Italien zutiefst zeichne, sei „das Fehlen eines freien Lebens (…) im Verlauf der Jahrhunderte“; man dürfe nie die „Äquivalenz Faschismus-Gegenreformation“ aus den Augen verlieren . Zwar habe es später das Risorgimento gegeben, dies sei aber nicht das Ergebnis einer autochthonen Bewegung gewesen: „Dem indifferenten Italien wurde die Revolution von äußeren Motiven und von Umständen europäischer Politik aufgezwungen“ . Diese historische Bilanz, in der es kaum Raum für den Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion gibt, ist tendenziell zugleich die Verurteilung eines Volkes in seiner Gesamtheit: „Weder Mussolini noch Vittorio Emanuele Savoia haben Herrentugenden, denn die Italiener haben wahrhaft Sklavengeist“; unfähig, sich zum Wert der Freiheit zu erheben, „verlangen sie Disziplin und einen starken Staat“ . Schlimmer noch: statt politisch zu argumentieren, neigten die Italiener dazu, sich von theatralischen Gesten verführen zu lassen. Insgesamt sei die Geschichte Italiens „ein verzweifelter Versuch, modern zu werden, dabei aber Literaten zu bleiben“; wir hätten es mit „einem Volk à la D’Annunzio“ zu tun .
Eine so katastrophale Bilanz zieht ein mutiger antifaschistischer Kämpfer, der voller Sympathie über Gramsci, über L’Ordine Nuovo und sogar über die „großartige Bewegung der Räte“ in den Fabriken spricht. Es ist kein Zufall, dass er die Partito d’Azione inspiriert hat, die, obwohl sie tapfer in der Resistenza gekämpft hat, in ihrer kurzen Existenz immer eine elitäre Partei blieb. Der Italienischen Kommunistischen Partei indes gelang es seinerzeit, einen großen Massenerfolg auch deshalb zu erzielen, weil sie der nationalen Frage gegenüber eine ganz andere Haltung einnahm. Der Faschismus hatte seinen Massenkonsens auf einer bestimmten Idee von Italien aufgebaut, die vom Römischen Reich ihren Ausgang nahm und über das (chauvinistisch gedeutete) Risorgimento zur Glorifizierung der Aggressions- und Eroberungskriege des faschistischen Regimes gelangte („Das Imperium ist auf die schicksalsschweren Hügel Roms zurückgekehrt“). Dieser Linie, die zum Debakel des Kriegs, zur Katastrophe der militärischen Besetzung des Landes und zu seiner Umwandlung in eine Halbkolonie des Großdeutschen Reichs geführt hatte, hatten Gramsci, Togliatti und die IKP eine andere nationale Identität entgegengesetzt, die die folgenden Etappen hervorhob. Einerseits lenkten sie die Aufmerksamkeit auf die vom italienischen Faschismus (und Kolonialismus) geschriebenen fürchterlichen Seiten und widerlegten damit die Legende der Italiani brava gente (etwa: „Italiener, anständige Leute“; ein positiver und wohltuender Sonderweg, auf Grund dessen die Italiener, trotz allem, wundersamerweise immun gegen die abstoßendsten Verbrechen gewesen sein sollen, die andere Völker begangen hatten). Andererseits hatten Gramsci, Togliatti und die IKP sich zu den großen Seiten der Geschichte Italiens bekannt: den von Italien mit dem Humanismus und der Renaissance geleisteten Beitrag zum Entstehen der modernen Welt; die neapolitanische Revolution von 1799 und das Risorgimento, die auf der Woge der französischen Revolution das Ancien Régime hinwegfegen und die nationale Einheit fördern; die antifaschistische Resistenza, die die Diktatur stürzt, die Unabhängigkeit und die nationale Einheit wieder erobert und die dank der ausgedehnten Massenbeteiligung die Grenzen der dem Risorgimento innewohnenden passiven Revolution überwindet. Auf diese Weise tritt sie als ein zweites Risorgimento mit wahrhaft nationalem und Volkscharakter hervor, das den tiefen Veränderungen demokratischen und sozialistischen Charakters den Weg bereitet, die notwendig sind, um ein für alle Mal die Wiederholung von reaktionären Abenteuern und Katastrophen unmöglich werden zu lassen. In dieser Perspektive entsprach der Sozialismus nicht nur den Befreiungserwartungen breiter Massen, sondern erwies sich als ein zutiefst nationales Erfordernis, das einen realen Ausweg aus der vom Faschismus und von der Krone hervorgerufenen„gesamtnationale Krise“ (um Lenins Sprache zu gebrauchen) bot. Auf diese Weise ist es der IKP gelungen, die Hegemonie unter den Volksmassen und der Intelligenz zu erobern und lange auszuüben.
Heute ist der historisch-politische Kontext radikal verändert, aber diese Lektion darf eine politischen Kraft nicht vergessen, die sich in ihrem Land wirklich verwurzeln und es umgestalten will.

8. Deutschland und seine revolutionäre Tradition

Wie stellt sich dieses Problem in Deutschland dar? Nach der Niederlage der Revolution von 1848 schreibt Engels im Vorspann zu seinem Buch über den Bauernkrieg: „Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition“ . Es handelt sich in der Tat nicht nur um die Reformation und den Bauernkrieg. Kein Land hat mehr als Deutschland den Zauber der Französischen Revolution verspürt, die nicht umsonst ihren höchsten Ausdruck in der „deutschen klassischen Philosophie“ findet, als deren „Erbin“ Engels die „deutsche Arbeiterbewegung“ versteht .
Selbst wenn die sozialchauvinistische Unterstützung des ersten Weltkriegs seitens der sozialdemokratischen Partei eine Zäsur im Vergleich zu den vielen Jahrzehnten bedeutet, in denen die deutsche Arbeiterbewegung in Europa als die Avantgarde der Revolution betrachtet wurde, darf man nicht vergessen, dass ein Jahr nach der Oktoberrevolution, ebenfalls im Kampf gegen den imperialistischen Krieg, die Novemberrevolution stattfindet, die der Hohenzollerndynastie ein Ende macht und eine Zeit lang Deutschland in die Fußstapfen Sowjetrusslands zu setzen scheint.
Auf all das reagiert der Nazismus extrem gewalttätig. Diesbezüglich sollte man sich von einer leider sehr weit verbreiteten Verdrehung befreien. Niemand lastet dem französischen Volk als solchem die furchtbare Repression an, die über die Aktivisten und die Sympathisanten der Pariser Kommune hereinbricht. Diese Grausamkeit ist in erster Linie Ausdruck der Schärfe des Klassenkampfs und damit auch ein Symptom für besonders schwere Gefahr, die die französische revolutionäre Bewegung für die französische (und internationale) Bourgeoisie darstellt. Warum sollte man anders vorgehen, wenn es um die Analyse des Hitlerschen (oder Mussolinischen) Regimes geht? Vor allem das Dritte Reich setzt sich auf Grund der Notwendigkeit durch, einen präventiven und unerbittlichen Bürgerkrieg gegen die revolutionäre und Friedensbewegung zu führen und im Verlauf des neuen, sich am Horizont abzeichnenden Krieges jenen Zusammenbruch der inneren Front zu vermeiden, zu dem es im Ersten Weltkrieg in Russland und Deutschland und beinahe auch in Italien kam, während sowohl Frankreich als auch England davon verschont blieben. Trotz dem großen Aufwand an blutgieriger Wut geht die nazistische Rechnung allerdings nicht voll und ganz auf: hatte der Erste Weltkrieg mit der Novemberrevolution geendet, so schließt der zweite, wenn auch dank dem entscheidenden Beitrag der Roten Armee, mit der Errichtung eines sozialistischen Staates auf deutschem Boden.
Wir können daher sagen, dass auch der Kampf gegen den Nazismus integraler Bestandteil der deutschen revolutionären Tradition ist. Um sich darüber klar zu werden, genügt eine elementare Konfrontation. Januar 1938: Der englische Botschafter (Sir Nevil Henderson) spricht sich weiterhin für ein deutsch-englisches Bündnis im Namen der gemeinsamen Aufgabe beider Völker aus, die Zivilisierung der „niederen Rassen“ voranzubringen. Zu diesem Zeitpunkt siechen Tausende deutscher Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen in den nazistischen Konzentrationslagern dahin. Besonders hart sind die Kommunisten und diejenigen betroffen, die mit der Sowjetunion sympathisieren, welche schon von Spengler als integraler Bestandteil der farbigen Rasse gebrandmarkt worden war. Sir Henderson beschränkt sich nicht darauf, die Unterwerfung der „niederen Rassen“ zu fordern; in den Berichten, die er nach London schickt, und in seinen Gesprächen mit Hitler ereifert er sich wiederholt auch gegen die „Kriegshetzer-Juden“ . Sehen wir uns dagegen an, was in Deutschland geschieht. Der jüdische Philologe Viktor Klemperer beschreibt die Beleidigungen und Erniedrigungen, die mit dem Tragen des Davidsterns verbunden waren. Jedoch: „Ein Möbelträger, der mir von zwei Umzügen her zugetan ist […], steht in der Freiberger Straße plötzlich vor mir und packt meine Hand mit seinen beiden Tatzen und flüstert, dass man es über den Fahrdamm weg hören muss: ‚Nu, Herr Professor, lassen Sie bloß den Kopf nicht hängen! Nächstens haben sie doch abgewirtschaftet, die verfluchten Brüder!’“ Der jüdische Philologe meint dazu mit liebevoller Ironie: „… gute Leute alle, riechen sehr nach KPD“; es waren die Kommunisten, die derart das Regime herausforderten . Wir können hinzufügen, dass dies ein ruhmreiches Blatt nicht nur der deutschen kommunistischen Partei, sondern auch des deutschen Volkes im Allgemeinen darstellt.
Bisher habe ich noch nicht von den Befreiungskriegen geredet. Nicht Wenige in der Linken bezweifeln deren progressiven Charakter, weil die Ideologie der antinapoleonischen Erhebung oft primitiv war. Aber sie tun dies völlig zu Unrecht – und zwar nicht nur, weil Lenin wiederholt diesen progressiven Charakter hervorgehoben hat. Der große russische Revolutionär, der den Widerstand des afghanischen Emirs gegen den englischen Imperialismus rechtfertigt, lässt sich auch nicht von der ideologischen Unreife beeindrucken, die manchmal nationale Befreiungsbewegungen kennzeichnet, wie wir heute noch feststellen können. Die Größe der deutschen klassischen Philosophie liegt darin, dass sie theoretisch die großen Ereignisse widerspiegelt, die die Geschichte des damaligen Europas markieren. Dies gilt auch für die Befreiungskriege und für das Denken, das sich am längsten um sie abgemüht hat. Lange Zeit hatte Fichte gehofft, die französischen Bajonette würden eine Erneuerung in Deutschland durchsetzen, und gelangte somit, verglichen mit Hegel verspätet, zum Verständnis der nationalen Frage; aber der späte Fichte erkennt voll und ganz die Berechtigung und historische Notwendigkeit der antinapoleonischen Erhebung und lässt sich nicht von denen irreführen, welche die aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Losungen zur Legitimierung des Expansionismus benutzen: er begreift vielmehr den objektiv befreienden und progressiven Charakter des deutschen Widerstands gegen Napoleon. Während Hegel anhand einer Analyse der Umwälzungen jenseits des Rheins die Kategorien der Revolution tiefer durchdacht hat als die Protagonisten der Revolution selbst, hat Fichte die Kategorien des nationalen Befreiungs- und Unabhängigkeitskrieges am tiefsten durchdacht, auch wenn Frankreich bei seiner Verteidigung der Revolution gegen die Intervention der Feudalmächte eine derartige Erfahrung schon mehrere Jahre vor dem Ausbruch der Befreiungskriege durchgemacht hatte. Man kann nicht umhin, in jenem späten Fichte, der die antinapoleonische Erhebung der unterdrückten Nationen theoretisch widerspiegelt und der, wenn auch unter ausschließlicher Bezugnahme auf Europa, eine Art ununterbrochenen, von der nationalen Befreiung zur politisch-sozialen Befreiung fortschreitenden revolutionären Prozess theoretisch fasst, einen der Höhepunkte der deutschen klassischen Philosophie zu erblicken.

9. Selbstgeißelung und Gefahr der indirekten Förderung des Chauvinismus

Trotz der reichen demokratischen und revolutionären Tradition Deutschlands ist die Tendenz zählebig, das deutsche Volk als die Verkörperung eines reaktionären und verbrecherischen Sonderwegs zu rassisieren. Nur so lässt sich die plumpe Agitation der Anti-Deutschen und der internationale Erfolg eines vor kurzem erschienenen Buches des amerikanischen Historikers Daniel J. Goldhagen erklären. Dieser bezeichnet den Antisemitismus und sogar den „Vernichtungs-Antisemitismus“ als eine „allgemeine Charakteristik des deutschen Volkes“. Vollkommen verschwiegen werden die fürchterliche Repression und der grausame Bürgerkrieg, den die Nazi-Banden gegen die deutschen Antifaschisten entfesselten. Auf diese Weise wird Hitler zum Protagonisten „einer friedlichen Revolution, der das deutsche Volk bereitwillig zustimmt“ (paradoxerweise wird hier ein in der Propaganda des Dritten Reiches häufig wiederkehrendes Motiv aufgenommen). Goldhagens These baut auf kolossalen Verdrängungen auf: im Personenregister seines Buches sind weder Hermann Cohen noch Henry Ford verzeichnet, noch kommen die Namen der exaltiertesten US-amerikanischen Antisemiten vor, die schon vor Hitler die „Vernichtung“ (extermination) der Juden fordern, um die notwendige „Desinfizierung“ (disinfection) der Gesellschaft zu realisieren .
Unaufhörlich betont der amerikanische Historiker den Massenkonsens in Deutschland für die Judenverfolgungen, die auf die „Endlösung“ hinausliefen ; man könnte sich aber fragen, auf welchen Konsens in den Vereinigten Staaten die Einsperrung der Staatsbürger japanischer Herkunft in Konzentrationslagern und die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki stießen? Vor allem: welchen Konsens fand der Rassismus, der in Amerika die Deportation, die Dezimierung oder die Vernichtung der Indianer und die Versklavung und die Unterdrückung der Schwarzen auch nach der formellen Abschaffung der Sklaverei mitten im 20. Jahrhundert besiegelt hat? Wollte man wie Goldhagen argumentieren, so könnte man sagen, der „Versklavungs-Rassismus“ (was die Schwarzen betrifft) und der „Vernichtungs-Rassismus“ (was die Indianer betrifft) seien eine „allgemeine Charakteristik des amerikanischen Volkes“.
Goldhagens Buch hat auch in Deutschland großen Erfolg erzielt. Wenn das deutsche Volk sich weiterhin der Verbrechen des Dritten Reichs schämt, so ist dies zweifellos positiv. Eine ganz andere Bedeutung hat indes das anhaltende Verständnis für den Mythos vom reaktionären und verbrecherischen Sonderweg: die unterschiedslose Selbstgeißelung ist nur die Kehrseite der impliziten Freisprechung des Gesellschaftssystems, das die zwei Weltkriege ausgelöst und den Imperialismus in seinen verschiedenen Formen, einschließlich der barbarischsten, gefördert hat; und sie ist außerdem die Kehrseite einer impliziten Verschönerung der Geschichte der anderen Länder des Westens. Paradoxerweise läuft diese Selbstgeißelung darauf hinaus, das gute Gewissen und den Chauvinismus nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern auch der reaktionärsten Kreise Deutschlands zu bestärken, die die Beteiligung an den von den USA geführten Kriegen mit dem Argument propagieren, man müsse ein für alle Mal mit dem verfluchten deutschen Sonderweg brechen!

Übersetzung aus dem Italienischen: Erdmute Brielmayer und Hermann Kopp.

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Domenico Losurdo
Deutscher Sonderweg und andere Sonderwege
(«Marxistische Blätter», 2008, n. 3, pp. 100-104)

1. In einem Klassiker des politischen Denkens liest man von einer “Nation, die im Gleichschritt marschiert und ganz in Reih und Glied steht” und deren Mitglieder “Angst vor der Isolierung” haben und den “Wunsch” hegen, “in der Masse zu bleiben”; seit jeher dazu geneigt, sich dem Despotismus anzupassen, ist ihnen die Freiheit “die am wenigsten wichtige Qualität und deshalb sind sie in gefährlichen Momenten immer dazu bereit, sie mit Vernunft aufzugeben”. Welche Nation ist es aber, die innerlich unfähig ist, die Selbstständigkeit des Individuums zu begreifen und zu respektieren, immer dazu bereit, sich vor den Machthabern und auch vor der tyrannischsten Obrigkeit zu bücken? Wir würden dazu neigen, an Deutschland zu denken; doch der hier zitierte Autor ist Tocqueville, der im Jahre 1856 auf diese Weise den ein paar Jahre zuvor in Frankreich instaurierten Bonapartismus beschreibt (Alexis de Tocqueville, Oeuvres complètes, hrsg. von Jakob Peter Mayer, Gallimard, Paris 1951ff. Bd. II, 2, S. 331ff.). Nun gut, gibt es heute noch jemanden, der zum Verständnis des Staatstreichs von Louis Napoléon auf den unverbesserlichen Herdengeist des französischen Volkes und auf seine ebenso unverbesserliche Unempfindlichkeit für den Wert der Freiheit verweist?
Heutzutage macht indes die Theorie vom reaktionären deutschen Sonderweg weiterhin Furore. Und man versteht nicht, warum. Als Tocqueville seine These formulierte, entfaltete sich in England und in den Vereinigten Staaten das liberale Regime; es ist auch in Piemont, das dabei war, Italien zu einigen, aufgetreten; sogar in Deutschland war der Despotismus weniger unterdrückend als in Frankreich und der Zentralismus war jedenfalls viel weniger entwickelt. Auf Frankreich schien indes ein besonderes und verhängnisvolles Schicksal zu lasten: das klassische Land des monarchischen Absolutismus hat nacheinander den jakobinischen Terror, die Militärdiktatur Napoleons I. und schließlich das eigentliche bonapartistische Regime Napoleons III. erlebt. Zumindest auf den ersten Blick hatte die Theorie vom französischen Sonderweg ihre Plausibilität. Der Theorie vom deutschen Sonderweg fehlt sogar dieser Anschein von Plausibilität: als Hitler die Nazibewegung ins Leben rief und seine Diktatur errichtete, berief er sich ausdrücklich auf das Modell von Mussolinis Italien; im Übrigen setzte sich das faschistische Regime, jeweils anders beschaffen, in zahlreichen weiteren Ländern durch.
Ist die Theorie vom deutschen Sonderweg schon recht wenig überzeugend, wenn sie eine Erklärung für das Dritte Reich geben will, so lässt sie die Gegenwart völlig unverständlich werden: seit sechzig Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland ein politisch-soziales Regime, das dem der anderen westlichen Länder ähnelt und das sich auf Weltebene durchzusetzen beginnt. Der BRD kann man eine Art Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik vorhalten; aber sie konnte das vor allem dank der Unterstützung Washingtons bewirken und wenn sie die Erfahrung des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft auf deutschem Boden liquidierte und dämonisierte, hat sich die Bonner Regierung gewiss nicht von den westlichen Modellen und “Werten” entfernt. Es ist nicht einzusehen, warum die Bundesrepublik Deutschland, was die Außenpolitik betrifft, für interventionistischer und militaristischer gehalten werden soll, als vor allem die Vereinigten Staaten, aber auch als England, Frankreich oder Australien. Und doch – klagt Beate Landefeld und zitiert Lukács, der Weber zitiert – Deutschland hat nie einen Hohenzollern geköpft. Mit größerem Recht sollte der Autor dieses Artikels klagen: Italien hat nie ein Mitglied des Hauses Savoyen geköpft und hat sich außerdem dieser Dynastie nicht am Ende des Ersten, sondern am Ende des Zweiten Weltkriegs entledigt und zwar durch eine Volksbefragung mit einem knappen und umstrittenen Ergebnis. Also nicht etwa mit einer Revolution wie der vom November 1818, die Wilhelm II. dazu zwang, vom Hauptquartier in Spa (in Belgien) aus direkt Holland zu erreichen, ohne durch Deutschland zu fahren, wo unangenehme Begegnungen drohen konnten. Welche Länder sind es übrigens, die einen ihrer Souveräne geköpft haben? Verurteilt England mit der puritanischen Revolution Karl I. zum Tode, so ruft es daraufhin die Stuart an die Macht und noch heute gedeiht in diesem Land die Monarchie, selbst wenn ihr Schmarotzercharakter vor aller Augen liegt. Bei genauerem Hinsehen bildet die Geschichte Frankreichs die Ausnahme und nicht die Regel: erneut stoßen wir auf den extremistischen und freiheitsfeindlichen Sonderweg, vor dem Tocqueville gewarnt hatte.
Beate Landefeld geht noch weiter: Deutschland habe keine (siegreiche) demokratische Revolution gekannt. In Wahrheit habe ich gerade von der Revolution gesprochen, die zur Weimarer Republik führt, mit der Deutschland zum ersten Land im Westen wird, das die aktiven und passiven politischen Rechte auf die Frauen ausdehnt und sich für die Errichtung des Sozialstaats einsetzt. Es handelt sich nicht um die einzige Revolution in der Geschichte des deutschen Volkes, zumindest nach Engels zu schließen, der den Beginn der “bürgerlichen Revolution” in Deutschland in den Jahren 1808-1813 ansetzt (MEW, 7, 539), das heißt mit der Realisierung der antifeudalen Reformen im Verlauf des nationalen Befreiungskampfs gegen das vom napoleonischen Frankreich aufgezwungene Regime der Unterdrückung und der Okkupation. Die von der Linken im Allgemeinen als unbedeutend abgetanen Befreiungskriege bilden für Lenin einen wesentlichen Bezugspunkt: der Kampf des jungen Sowjetrussland gegen die Aggression des deutschen Imperialismus der Hohenzollern wird von ihm mit dem, wenn auch von den Hohenzollern angeführten “Befreiungskrieg” und “Volkskrieg” verglichen, während Napoleon als ein “ebensolcher Räuber wie jetzt die Hohenzollern” beschrieben wird (LW, 27, 174f. und 93).
2. Ist die revolutionäre Tradition reicher in England oder in den Vereinigten Staaten? Was das erste der beiden hier zitierten Länder betrifft, erleidet die so genannte puritanische Revolution eine Niederlage. Und die zweite englische Revolution, die heute als die Glorious Revolution gefeiert wird, wird in Wahrheit von Marx als “parlamentarischer Staatsstreich” zur Verwandlung von “Gemeindeeigentum” “in Privateigentum” bezeichnet (MEW, 23, 753): mit diesem Staatsstreich kann der Landadel die Einzäunung der Gemeindeländereien und die Vertreibung (Ausweisung) der Bauern in die Wege leiten und in Irland gelingt es ihm, seine unerbittliche Herrschaft über die unglückseligen Iren (die dortigen Indianer und Schwarzen) zu konsolidieren.
Kommen wir jetzt zu den Vereinigten Staaten. Heutzutage interpretieren bedeutende US-amerikanische Forscher den Aufstand der englischen Kolonisten in Amerika nicht als eine Revolution, sondern vielmehr als eine reaktionäre Sezession: von der bis dahin von der Krone ausgeübten Kontrolle erst einmal befreit, verstärkten die Rebellen einerseits ihre Macht über die schwarzen Sklaven und konnten andererseits ohne Behinderungen die Expansion nach Westen zum Schaden der Indianer voranbringen. Natürlich kann man diese Interpretation anfechten, es bleiben jedoch einige Tatsachen, über die es sich lohnt nachzudenken: mit dem Sieg der aufständischen Kolonisten erfährt der Prozess der Enteignung, Deportation und Dezimation der Indianer eine dramatische Beschleunigung; in dem neuen unabhängigen Staat wird die Sklaverei der Schwarzen 30 Jahre später abgeschafft als in den englischen Kolonien; um die Mitte des 19. Jahrhunderts führen die Vereinigten Staaten in dem Mexiko entrissenen Texas, die zuvor schon aufgehobene Sklaverei wieder ein; auf dem amerikanischen Kontinent sind die USA eines der letzten Länder, die die Sklaverei abschaffen; auf die formelle Aufhebung dieser Institution folgt eine Regime terroristischer white supremacy, das nichts dergleichen in Kanada oder Lateinamerika kennt. Nach nicht wenigen US-amerikanischen Historikern zu schließen, ist dies die tragischste Periode der Geschichte der Afroamerikaner (sogar noch tragischer als die Jahrhunderte der Sklaverei), wegen der sadistischen Gewalt, die der Ku Klux Klan und andere Banden tagtäglich den Mitgliedern der “niedrigen Rasse” antun. Vom Standpunkt der Indianer und der Schwarzen aus macht es sicher keinen Sinn, von demokratischer Revolution zu reden. Noch weniger Sinn macht es, von demokratischer Revolution zu reden, wenn man bedenkt, dass die Vereinigten Staaten über lange Zeit hinweg den Bezugspunkt für die Reaktion bildeten. Nach der großen schwarzen Revolution von Santo Domingo, die am Ende des 18. Jahrhunderts die Sklaverei abschaffte und den ersten Staat (Haiti) auf dem amerikanischen Kontinent ohne diese Einrichtung gründete, suchen und finden die ihres Menschen-Viehs beraubten Grundbesitzer in der nordamerikanischen Republik Zuflucht und auf Washington blicken weiterhin diejenigen, die die Sklaverei aufrechterhalten wollen. Mit der Abschaffung dieser Einrichtung und dem Anbruch des Regimes der white supremacy werden die USA (und vor allem der Süden) zum Modell des Rassenstaats, der sich auf die Trennung und Hierarchisierung der Rassen gründet: daran inspiriert sich das Südafrika der Apartheid und darauf blicken voller Bewunderung Hitler und Rosenberg.
Erneut verwechselt der Diskurs, der Deutschland (ohne demokratische Revolution) den anderen Ländern engegenhält, die Ausnahme mit der Regel. Von wahrhaft demokratischer Revolution können wir in Bezug auf Frankreich reden; aber die Enthauptung des Bourbonenkönigs (Ludwig XVI.) verhinderte nicht die Thronbesteigung des von Lenin als eine Art Hohenzollern bezeichneten Napoleons I.; sie verhinderte nicht, dass das Land am Ende des 19. Jahrhunderts die antidemokratische und antisemitische Bewegung anführt; vor allem verhinderte sie nicht die Errichtung der Republik von Vichy, die bis zuletzt mit Hitler zusammenarbeitete. Eine mehr oder weniger “passive” demokratische Revolution stellte das italienische Risorgimento dar, aber das hat nicht die Machtergreifung seitens des Faschismus und Mussolinis verhindert, der dann Hitlers Vorbild und später, mit der Verabschiedenung der Rassengesetze und mit der Republik von Salò, sein Schüler und sein Diener wird. Wie man sieht, macht die bürgerlich- demokratische Revolution nicht von selbst immun gegen den Faschismus. Die Theorie vom deutschen Sonderweg hat also einen doppelten Makel: während sie die Geschichte Deutschlands einheitlich in dunklen Farben schildert, verklärt sie die Geschichte der anderen Länder und der bürgerlich-demokratischen Revolution schlechthin.
3. Stellen wir uns jetzt eine Frage: welche Rolle spielt diese Theorie bei den klassischen oder Bezugsautoren der kommunistischen Bewegung? Nachdem Engels 1890 Die auswärtige Politik des russischen Zarentums (eine Abhandlung, die sich völlig auf die Brandmarkung der Gefahr konzentriert, die Russland für die Demokratie und den Frieden in Europa darstellt) veröffentlicht hatte, schreibt er ein Jahr später an August Bebel einen Brief, der eine außergewöhnliche Hypothese aufstellt. Wenn es von (dem im Westen von seinen Verbündeten unterstützten) Russland angegriffen würde, könnte Deutschland gezwungen sein, einen Verteidigungs- und nationalen Unabhängigkeitskrieg zu führen. “Und es kann kommen, daß gegenüber der Feigheit der Bourgeois und Junker, die ihr Eigentum retten wollen, wir die einzige wirkliche energische Kriegspartei sind” (MEW, 38, 176). Mit dem revolutionären und jakobinischen Frankreich, das die Invasion der konterrevolutionären Mächte zurückweist, wird hier indirekt Deutschland verglichen, wo es eine starke Arbeiterbewegung gibt, wo aber immer noch die Hohenzollern regieren und wo seit kurzem Wilhelm II., ein erklärter Verfechter des Imperialismus, den Thron bestiegen hat. Und dennoch, wenn es zu diesem Zeitpunkt ein Land gibt, das für Engels einen reaktionären und kriegshetzerischn Sonderweg einschlägt, so ist dies Russland und gewiss nicht Deutschland.
Überspringen wir jetzt ein paar Jahrzehnte. Wenn Lenin, nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die These der Entente zurückweist, nach der ausschließlich das Wilhelminische Deutschland das Gemetzel entfesselt hätte, distanziert er sich praktisch von der Theorie des deutschen Sonderwegs. Es sind vielmehr die deutschen Sozialdemokraten, die dem russischen Revolutionär vorwerfen, mit seiner Imperialismustheorie die angelsächsische Welt und Deutschland auf die gleiche Ebene zu stellen. Dieses kritische Motiv Lenin gegenüber sehen wir bei Kautsky, bei Hilferding und es findet seinen reifsten Ausdruck bei Schumpeter, der im Jahre 1919 folgendermaßen die These bestreitet, die im Kapitalismus die Wurzeln der Kriegspolitik des Imperialismus ausmacht. Im Gegensatz zu Deutschland und zu den Ländern, auf denen noch das Erbe des alten Regimes laste, herrsche in den Vereinigten Staaten, wo Kapitalismus und Demokratie besonders entwickelt sind, das Ideal des Friedens unangefochten in der Kultur und in der politischen Praxis. Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass diese Argumentation von den Deportations- und Vernichtungskampagnen zum Schaden der Indianer, vom Krieg, der zur Zerstückelung Mexikos führt, von den wiederholten militärischen Interventionen in Lateinamerika, von der zum Teil genozidalen Unterdrückung mit der Washington die Unabhängigkeitsbewegung auf den Philippinen bekämpft, völlig absieht. Dem kolonialen Expansionismus der USA entspricht bei Th. Roosevelt die Glorifizierung der Vernichtung der Indianer in epischen Tönen, die theoretische Rechtfertigung der Politik des “dicken Knüppels” gegen die Völker, die sich gegen das Protektorat Washingtons auflehnen, die Bestätigung der kathartischen Funktion des Krieges. Von alle dem findet sich keine Spur bei Schumpeter, der sich nicht darüber im Klaren ist, dass er mit seinen Verdrängnungen eklatant eine zentrale These Lenins bestätigt: die Kolonialmächte betrachten einen bewaffneten Konflikt mit den von ihnen entmenschlichten Völkern nicht als Krieg. Auf diese Weise kann der bedeutende Wirtschaftler und Soziologe zu dem Schluss kommen, dass man in Bezug auf England und die Vereinigten Staaten nicht von imperialistischen und kriegshetzerischen Tendenzen reden kann. Es handelt sich um eine erneute indirekte Bestätigung der Theorie vom deutschen Sonderweg, die sich hier als die Antwort auf die von Lenin formulierte Imperialismustheorie präsentiert.
Als dieser im Jahre 1920 das Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe seiner Abhandlung über den Imperialismus schrieb, sparte er von den “zwei, drei, weltbeherrschen, bis an die Zähne bewaffneten Räubern (Amerika, England, Japan)”, die darum bemüht sind, sich die Welt aufzuteilen, Deutschland aus, das in Versailles einen “weitaus bestialischeren und niederträchtigeren” Frieden als den erlitten hat, den der deutsche Imperialismus Sowjetrussland aufgezwungen hatte (LW, 22, 195). Wie man sieht, nahm damals der große russische Revolutionär einerseits Frankreich und andererseits die angelsächsischen Länder besonders ins Visier, die von der Sozialdemokratie und von Schumpeter verklärt wurden.
Später sorgen der Nazismus und das Unternehmen Barbarossa dafür, radikal die Verhältnisse zu ändern. Gut verständlich ist in diesem Kontext das Bemühen der kommunistischen Bewegung, gründlich die Geschichte des Landes neu zu durchdenken, das die Schande des Dritten Reichs hervorgebracht hat. Aber mit dem Ausbruch des Kalten Krieges ändert sich das Bild erneut, wie aus dem von Lukács in der Zerstörung der Vernunft formulierten Plan hervorgeht:
“Da nämlich in der Zeit nach dem Abschluß des zweiten Weltkrieges die Vereinigten Staaten als führende Macht der imperialistischen Reaktion immer stärker in Erscheinung traten und in dieser Hinsicht an die Stelle Deutschlands getreten sind, müßte sachlich eine Geschichte ihrer Philosophie geschrieben werden, um mit derselben Genauigkeit, wie dies hier in bezug auf Deutschland geschah, aufzuzeigen, woher die gegenwärtigen Ideologien des ‘amerikanischen Jahrhunderts’ gesellschaftlich wie geistig stammen, wo die gesellschaftlichen und geistigen Wurzeln dieser heutigen Ideologien zu finden sind. Es versteht sich von selbst, daß dazu ein Buch vielleicht von demselben Umfang wie das vorliegende, nötig wäre” (György Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Aufbau Verlag, Berlin, 1954, S. 603f.).
4. Allerdings glaube ich nicht, dass in den politisch-kulturellen Debatten der Krieg der Zitate entscheidend sein kann und zweifellos kann man über das hier diskutierte Thema bei den Klassikern und bei den Bezugsautoren der kommunistischen Bewegung Erklärungn zugunsten der These vom deutschen Sonderweg finden. Aber das ist nicht der springende Punkt: zunächst sind diese Erklärungen keineswegs ein einheitliches und konsequentes Ganzes; vor allem wäre es ein schwerer Fehler, dogmatisch auf sie zu verweisen. Leider ist die Geschichte der kommunistischen Bewegung voll von Missgriffen dieser Art. Ich möchte hier einen besonders eklatanten anführen. Im Sommer des Jahres 1934 bereitet das theoretische Organ der KPdSU, “Bolschewik” eine dem 20. Jahrestag des Ausbruch des imperialistischen Krieges gewidmete Nummer vor und dafür schlägt die Redaktion vor, in diesem Zusammenhang Die auswärtige Politik des russischen Zarenreichs wieder zu veröffentlichen, die Abhandlung Engels, die von Anfang bis Ende die besondere Gefährlichkeit und den reaktionären und expansionistischen Sonderweg des zaristischen Russland anprangert. Dieser Vorschlag (klugerweise von Stalin zurückgewiesen) hat etwas Unglaubliches an sich und nicht nur, weil inzwischen die Oktoberrevolution stattgefunden hat. Auf der Gegenseite hatte Hitler die Macht ergriffen, der schon in Mein Kampf klar und deutlich ein Programm formuliert hatte, das die Errichtung eines riesigen kontinentalen Reichs in Osteuropa mit der darauf folgenden Dezimation und Versklavung der “Einheimischen” vorsah. Der dogmatische Verweis auf die Klassiker machte es schwierig, ja sogar unmöglich, sich der inzwischen ganz besonderen Gefährlichkeit des deutschen Imperialismus bewusst zu werden.
Und heute? Anstelle der von Lukács gebrandmarkten Ideologie des “amerikanischen Jahrhunderts” haben wir jetzt die Ideologie des “neuen amerikanischen Jahrhunderts”, die von führenden Kreisen und Gruppen propagiert wird, die ganz offen proklamieren, die USA, das von Gott “auserwählte Volk”, habe das Recht, ihr Weltreich aufzuzwingen, indem sie das internationale Recht verletzen und überall in der Welt intervenieren, auch mit Rekurs auf den präventiven Krieg und ohne zu zögern, mit der Atomwaffe zu drohen (und sie im Notfall einzusetzen). Unter diesen Bedingungen ist die von der Zerstörung der Vernunft formulierte Aufgabe dringlicher denn je: die Geschichte der Vereinigten Staaten muss gründlich neu durchdacht und neu geschrieben werden. Ohne Grundlage auf historischer Ebene, schwach und sogar beunruhigend auf theoretischer Ebene (wegen der Tendenz vom Gebiet der objektiven Widersprüche auf das der angeblichen Völkerpsychologie abzurutschen), riskiert das hartnäckige Heraufbeschwören des Schreckbilds vom deutschen Sonderweg auf politischer Ebene katastrophal zu sein.
Aus dem Italienischen übersetzt von Erdmute Brielmayer